2. SONNTAG der Osterzeit
„Jesus ist auferstanden. Gott hat ihn auferweckt“. Diese Bildsprache verwenden die ersten Christen, als sie über ihre total neuartige Erfahrung reden. Diese Erfahrung umschreiben sie so: „Er ist uns „erschienen“. Was heißt aber „erscheinen“? Eine Fata Morgana? Eine Vision? Ein Fantasiegebilde? „Nein, wir sind ihm wirklich begegnet.“ Es war zwar Jesus, aber er war anders. Paulus redet von einem „verklärten Leib“: Jesus war wahrnehmbar, aber er hatte nicht diesen physischen Körper wie vorher. Mit so einem physischen Körper hätte er nicht auf einmal, plötzlich, ohne Ankündigung, mitten unter uns sein können. Wir hatten uns eingesperrt, aus Angst, dass die Obrigkeit auch uns festnimmt. Die Türen waren verschlossen. Mit einem normalen Körper kann man nicht durch verschlossene Türen gehen.
Thomas war nicht dabei, als sie diese Erfahrung machten. Er wird traditionell als „der ungläubige Thomas“, als ein Skeptiker und Zweifler bezeichnet. Tun wir ihm da nicht Unrecht? In einer anderen Szene im Johannesevangelium, wo Jesus sagt, dass er zu Gott, dem Vater, zurückkehrt und hinzufügt: „Wohin ich gehe, ihr kennt den Weg“, antwortet Thomas ganz gefasst: „Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie sollen wir dann den Weg kennen?“ (Joh 14,5). Thomas ist ein Realist, ein nüchtern denkender Mensch. Was die anderen ihm da erzählen klingt allzu außergewöhnlich und unglaubwürdig. Verständlich, wenn man bedenkt wie Jesus gestorben ist. Von einem Gekreuzigten blieb nichts übrig. Der war ausradiert. Und jetzt soll er leben?
In der Gestalt dieses Thomas bringt der Evangelist Johannes den Zweifel zur Sprache, dem er in seiner Gemeinde und ihrem Umfeld begegnet. Diese Christen lebten 60-70 Jahre später. So wie Thomas waren auch sie nicht dabei, als Jesus erschien. Auch unter ihnen waren Menschen, die mit Goethes Faust sagten: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Thomas verlangt handfeste Beweise. Vielleicht haben seine Freunde sich etwas eingebildet. Thomas hat so seine Zweifel.
Und das ist nun das Schöne: Die anderen Apostel bestürmen Thomas nicht. Sie versuchen nicht ihn mit Gewalt zu überzeugen. Sie verurteilen ihn nicht, weil er zweifelt. Sie schließen ihn nicht aus ihrer Gemeinschaft aus. Zweifeln ist erlaubt. Sie behalten ihn in ihrer Gemeinschaft. Man kann mit Zweifeln in der Gemeinde bleiben. Gerade dadurch bekommt Thomas die Chance, innerhalb ihrer Gemeinschaft, die gleiche Erfahrung zu machen, wie sie.
Thomas fordert für sich nicht einfach eine Erscheinung Jesu, sondern er will wissen, ob »der Herr«, von dem die anderen reden, wirklich dieselbe Person ist, die er gekannt hat, Jesus aus Nazareth - noch genauer: ob er mit dem identisch ist, der am Kreuz hingerichtet wurde. Deswegen will er die Wundmale sehen. Der Auferweckte darf kein anderer als der Gekreuzigte sein. Sonst ist das Gerede über „Auferweckung“ unsinnig.
Genau eine Woche später sind also die Apostel wieder im Haus versammelt. Diese Art der Darstellung der Versammlung, jeweils am ersten Wochentag, also am Sonntag, weist darauf hin, dass zur Zeit des Johannes das sonntägliche Zusammenkommen der Gemeinde schon ein fester Brauch war. Will Johannes seine Christen darauf hinweisen, dass Jesu Gegenwart als der Auferstandene im Gottesdienst der Gemeinde erfahren werden kann?
Jetzt fühlt sich auch Thomas direkt, persönlich von Jesus angesprochen. Er scheint es sogar nicht mehr notwendig zu haben, die Wundmale von Jesus zu berühren. Jesus fordert ihn auf: »Sei nicht ohne Vertrauen, sondern habe Vertrauen!« Worauf soll Thomas vertrauen? Was soll er »glauben«? Er soll darauf setzen, dass Gott hier sein schöpferisches, Leben-aus-dem-Tod schaffendes Macht-Wort gesprochen hat. Thomas ist überwältigt, hingerissen. Tief berührt spricht er diesen Gott an, der diesen gekreuzigten Jesus auferweckt, ihm neues Leben geschenkt hat: „Mein Herr und mein Gott“.
Ist der Weg, den Thomas gegangen ist, nicht auch unser Weg? Auch wir haben Jesus nicht gesehen. Wir haben nur das Zeugnis von Menschen, denen er sich gezeigt hat. Aber fühlen wir uns trotzdem nicht wenigstens ab und zu von Jesus direkt und persönlich angesprochen, durch Worte und Handlungen von Jesus von denen die Bibel erzählt? Natürlich hinterfragen wir. Natürlich entstehen hier und dort Zweifel. Aber gehört der Zweifel nicht zum Glaubensweg? Sind wir nicht Thomas?